AUSSTELLUNGSARCHIV

Katharina Ricken

Das Allgemeine und das Besondere (nach Kierkegaard)

17.12.2006-27.04.2007

 

EINFÜHRUNG VON MARLIS MUCTAR:

 

„Der wahrhaft ungewöhnliche Mensch ist der wahrhaft gewöhnliche Mensch“ oder das „Allgemeine und das Besondere“

 

Meine Damen und Herren, liebe Freunde, liebe Familie,

 

ich begrüße alle sehr herzlich zur Eröffnung der neuen Galerie am Rhein und damit zur Eröffnung der Ausstellung mit Werken der Krefelder Künstlerin Käthe Ricken.

Käthe Ricken ist vielen von Ihnen ja bekannt, zu Lebzeiten gab es zahlreiche Ausstellungen, ihre Bilder hängen verstreut in der ganzen Welt, in Deutschland, im europäischen Ausland, in Asien und in Amerika.

 

Käthe Ricken wurde 1917 hier in Köln als Käthe Ortmann geboren.

1917- man halte die Jahreszahl einen Moment lang fest. Denn die Welt sah wahrhaftig anders aus, damals, vor nun doch schon fast einem Jahrhundert.

Der 1. Weltkrieg tobt draußen auf den Schlachtfeldern, die bürgerliche Gesellschaft klammert sich an strenge und enge Normen und Werte. Die gelten in besonderem Maße für die Frauen. Erst 1919 erhalten die Frauen das Wahlrecht, immerhin, aber Begriffe wie Emanzipation oder gar Selbstverwirklichung sind noch Lichtjahre entfernt.

Die fünf Kinder der Familie Ortmann erhalten eine strenge Erziehung: Pflichterfüllung, Opferbereitschaft, Gottesfürchtigkeit, die Meßlatte der Moralbegriffe ist hoch angesetzt.

Der Vater ist Finanzbeamter, staubtrocken klingt das, aber es gibt noch eine andere Seite: Der Vater ist künstlerisch interessiert, er zieht mit den Kindern durch die Museen, er ist selbst begabter Hobbymaler!

Überhaupt gibt es in der Familie Literaten, Maler, Grafiker, eine Opernsängerin.  Künstler eben, fast anrüchig in der damaligen Zeit.

In diesem Klima voller Widersprüche, hier bürgerliche Enge, da schöpferische Weite,  wächst Käthe Ricken auf, sie prägen ihre Persönlichkeit und ihre Kunst.

Aber:  sie darf Kunst studieren, zunächst in Krefeld, später in Hamburg, sie ist Meisterschülerin.

Mit 25 heiratet sie in die Krefelder Fabrikantenfamilie Ricken. Eine gelernte Künstlerin trifft auch hier auf Vorbehalte.

Schwere Jahre folgen. Der 2. Weltkrieg bringt Not, Tod, Vernichtung, Hunger, Angst.

Angst um den Ehemann an der Front, Angst in durchzitterten Nächten mit den kleinen Kindern im Luftschutzkeller.

Käthe Rickens Erinnerungen an die todbringenden Bombenangriffe auf Hamburg sind später im englischsprachigen Raum veröffentlicht worden.

Wir alle kennen die Geschehnisse aus Filmen, wir haben Fotos gesehen, Zeitzeugen gehört. Aber was passiert in einem Menschen, der das alles selbst erlebt?!

 

Über viele Jahre malt Käthe Ricken kaum einmal. Sie hat fünf Kinder, widmet sich ganz den Aufgaben in der Familie. Erst als das jüngste Kind zehn Jahre alt ist, greift sie wieder regelmäßig zu Pinsel und Farbe.

Dieses jüngste Kind bin ich, und ich bekenne, dass ich als Zehnjährige die Kunst meiner Mutter gehasst habe, entzog sie mir doch Aufmerksamkeit, die ich meinte, für mich beanspruchen zu dürfen. Kinder sind egoistisch!

Hier wird deutlich, dass die Künstlerin Käthe Ricken immer noch nicht frei war. Auch nach einer –heute würde man sagen- Babypause von zwanzig Jahren bleibt sie aufgerieben zwischen Pflichterfüllung in der Familie und dem Wunsch nach Verwirklichung ihrer künstlerischen Ideen.

Sie hat oft gesagt, dass sie ihren schöpferischen Schaffensdrang als eine Art Krankheit empfände, von der sie lieber nicht befallen wäre, denn dann wäre ihr Leben wohl leichter.

 

Käthe Ricken malt zunächst noch akademisch, sie hat ihr Handwerk meisterhaft gelernt. Doch mehr und mehr löst sie sich, ihre Bilder zeigen eine breite Palette. Wir finden Elemente der verschiedensten Richtungen kombiniert, von der lässigen Bleistiftskizze und schmückenden Ornamenten bis zu Kubismus und Konstruktivismus.

So  entsteht ein ganz eigener Stil, der ihre Werke unverwechselbar macht.

Ihre Bilder sind  voller Schwermut und Melancholie oder auch von schwebender Poesie. Sie sind voll warmherziger Ironie auf menschliche Schwächen oder gespickt mit bissigen Seitenhieben gegen Spießertum und Kleingeist. Sie waren der Künstlerin ein Gräuel! Herrlich hintersinnig ist ihr Humor:

„Dinner for two“, der Tisch ist feierlich gedeckt, edles Porzellan auf feinstem Tuch. Erst bei genauer Betrachtung fällt auf, dass ein Dessertlöffel fehlt. Welch augenzwinkernde Boshaftigkeit! Da soll doch jemandem der süße Nachtisch verwehrt bleiben! Die ganze Geschichte dazu bleibt der Phantasie des Betrachters überlassen!

Manche Bilder schließlich zeugen auch von der Sehnsucht nach einer heilen Welt...

Es sind die Erfahrungen ihres Lebens, die in der Kunst ihren Ausdruck finden: Rigide Erziehung, Kriegserfahrungen und der ganz normale Wahnsinn eines Frauenlebens zwischen Familie und Berufung.

Weitere Ausstellungen in der Galerie am Rhein werden die verschiedenen Aspekte in Käthe Rickens umfangreichen Werk immer deutlicher machen.

 

In der aktuellen Ausstellung sehen wir Bilder aus dem Spätwerk. Das Titelbild der Ausstellung heißt:“ Das Besondere und das Allgemeine nach Kierkegaard“.

 

Wir sehen zwei auf die Spitze gestellte Quadrate, weitgehend eingefasst in einen sie verbindenden Kreis. Die beiden Quadrate berühren einander, die Farben sind gleich, wenn auch in den beiden Quadraten unterschiedlich angeordnet.

Welches Quadrat ist das Besondere, welches das Allgemeine? Wofür stehen Kreis und Quadrat?

Für den dänischen Existenzphilosophen des 19. Jahrhunderts, Sören Kierkegaard, ist Angst das zentrale menschliche Erlebnis. Angst offenbart die Zerrissenheit und Sinnlosigkeit des Seins. Bei Jean Paul Sartre finden wir später das Bild vom Menschen, der am Abgrund steht und in der dunklen Tiefe sich selber sucht.

 

Der Mensch befreit sich von Angst und Sinnlosigkeit mittels der Entscheidung. Kierkegaard, in seiner Schrift „Entweder- Oder“ von 1843 und  später dann die Existenzphilosophen des 20. Jahrhunderts wie Jaspers, Heidegger, Sartre sprechen vom „ Sprung“ der Entscheidung.

Hier wird die ganze Ungeheuerlichkeit der Entscheidung deutlich, da der Blick in die Tiefe und dann der Sprung, das Wagnis der Entscheidung!

Wer sein Leben so annimmt, wird frei.

Der Mensch erschafft sich im Moment der Entscheidung gewissermaßen selbst, sagt Kierkegaard.  Er wird im Moment der Entscheidung  von diesem einen besonderen Individuum zum allgemeinen Menschen und doch bleibt er zugleich das eine unverwechselbare Individuum. Hat der Mensch zunächst nach seinen Möglichkeiten gesucht- man würde heute sagen, er hat nach dem Lustprinzip gelebt- so sucht er jetzt, nach der Entscheidung, auf einer ethisch höheren Daseinsstufe nach seinen Aufgaben.

 

„Der wahrhaft ungewöhnliche Mensch“, sagt Kierkegaard, „ist der wahrhaft gewöhnliche Mensch. Je mehr ein Mensch in seinem Leben das Allgemein- Menschliche realisieren kann, umso ungewöhnlicher ist er. Je weniger er das Allgemeine in sich aufnehmen kann, umso unvollkommener ist er. “

Martin Heidegger drückt es hundert Jahre später so aus: Der Mensch ist zunächst geworfen in seine Existenz, mittels der Entscheidung dann wird der Mensch vom Seienden zum Sein.

Dieser Prozess ist niemals abgeschlossen, immer wieder steht der Mensch in der Entscheidung.

So mag hier im Bild der Kreis für die Gesamtpersönlichkeit stehen, die beide Seiten in sich trägt und sich immer wieder aufs Neue für das Besondere oder das Allgemein- Menschliche entscheiden muss. Die Berührung der beiden Quadrate deutet möglicherweise den Moment der Entscheidung an.

 

Käthe Ricken hat äußerlich angepasst gelebt, wir dürfen mutmaßen, dass sie im Sinne von Kierkegaard ihre Verpflichtungen angenommen und ernstgenommen hat.

Wer sie kannte weiß aber auch, dass hinter der ruhigen Fassade ein Vulkan brodelte. So war sie jederzeit bereit, für ihre ethischen Überzeugungen auf die Barrikaden zu gehen.

Im Alter nun drängt dieser Vulkan immer stärker zum Ausbruch.

Die Bilder der späten Jahre, wie wir sie hier sehen, sind meist reduziert auf geometrische Formen. Die Farben werden aggressiver, das lange Jahre vorherrschende Blau weicht leuchtendem Rot, Orange und sogar schrillem Pink.

„Selbst im Glashaus“, wer im Glashaus sitzt, muss stillhalten, sonst gibt es Scherben. Und dann kommt er doch, der „Ausbruch zur Freiheit“, „Überwältigendes Vorbild“, „ Im Strudel der Entwicklungsphasen“, „Unliebsame Erinnerung“,  in den Titeln ihrer Bilder sprechen nun ihre inneren Kämpfe und Schmerzen eine deutliche, direkte Sprache.

 

Ein paar emsige, freierwerdende Schaffensjahre sind ihr noch vergönnt. –

Käthe Ricken ist vor einem Jahr gestorben.

Die zwei letzten Jahre ihres Lebens war sie ans Bett gefesselt, in ihrem kleinen Atelier, umringt von ihren Bildern. Mit ihnen hat sie sich von ihrem Krankenlager aus pausenlos beschäftigt, sie wolle sie alle verbessern, sagte sie unter Mühen.

Wozu ein großer schöpferischer Geist in einem dahinsiechenden Körper noch fähig gewesen wäre, zu welchen Farben die Künstlerin jetzt gegriffen hätte und was ihre Aussage gewesen wäre, darüber können heute nur spekulieren.

Ich wünsche Ihnen einen interessanten Rundgang durch die Ausstellung auf der Suche nach dem „Besonderen“ und dem „Allgemeinen“.

 

Marlis Muctar zum 17.12.2006